Diese Rede hielt die Shoa-Überlebende Inge Deutschkron zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag.
„Zerrissenes Leben“
Dicht an dicht, so standen sie am Straßenrand in jener Nacht des 30. Januar 1933. Männer und Frauen, Junge und Alte. Und sie grüßten die vielen Hunderte, die in ihren khakifarbenen Uniformen mit dröhnendem Marschtritt durch das Brandenburger Tor in die Stadt einmarschierten – brennende Fackeln in ihren Händen. Die Massen am Straßenrand rissen ihre Arme hoch dem Himmel entgegen und schrien ihre Begeisterung hinaus über die Machtergreifung, wie die neuen Herren des Deutschen Reiches ihren auf demokratische Weise errungenen Wahlsieg bezeichneten. Und die marschierenden Kolonnen sangen ihre Lieder dazu: „Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut“, war eines davon. War’s nur ein Lied oder symbolischer Ausdruck ihrer Politik?
„Mein Kind, Du bist Jüdin.“ Meine Mutter setzte sich zu mir, wie so oft, wenn sie mir etwas Wichtiges mitteilen wollte. Es war wenige Tage, nachdem die NSDAP die Macht in Deutschland übernommen hatte. „Du gehörst nun zu einer Minderheit“, sagte sie mit fester Stimme. „Du musst den andern in Deiner Klasse zeigen, dass Du deshalb nicht geringer bist als sie.“ Sie wisse natürlich, dass ich das auch tun würde. Energischer werdend fügte sie hinzu: „Lass Dir nichts gefallen, wenn Dich jemand angreifen will. Wehr Dich!“ Ein Satz, der mein ganzes Leben bestimmen sollte.
Doch, was war das, eine Jüdin? Ich fragte nicht danach. Irgendwie schien mir dies ein schwieriges Thema zu sein. Möglicherweise hatte es etwas mit Religion zu tun. Ein Fach, das in meiner Schule nicht gelehrt worden war und zu Hause keine Rolle spielte. Ich weiß auch heute nicht mehr, ob meine Mutter ihre Feststellung näher erläutert hatte. Ich weiß nur noch, dass ich sie nicht verstand.
Hingegen wusste ich genau, wer die Nazis waren, was ihre Ziele und wer dieser Hitler war. Das hatte meine Mutter mir erklärt. Sie wollte, dass ich die Gründe für ihre vielen Aktivitäten verstand, die alle dem Kampf gegen die Nazis galten. Und dass dies dazu führte, dass sie mich immer öfter allein in der Obhut unserer Haushaltshilfe zu Hause lassen musste. Sie seien Sozialisten, hatte meine Mutter einmal beiläufig gesagt. Sie kämpften für den Sieg des Sozialismus in Deutschland, denn nur dann würde die Gleichberechtigung aller Menschen gewährleistet und eine weitere Judenfeindschaft ausgeschlossen sein.
Oft konnte ich des Abends nicht einschlafen und horchte auf Tritte im Treppenhaus. Waren es die von Stiefeln, bekam ich Angst, es könnten die von SA-Männern sein, die kämen, um meinen Vater zu verhaften. Verhaftung – das Wort war mir bald nicht mehr fremd. Häufig wurden Menschen verhaftet, die aus ihrer gegnerischen Haltung zur „neuen Ordnung“ keinen Hehl gemacht hatten. Dann wurden sie in Folterkellern der SA, irgendwo in Berlin, gequält. Das entnahm ich Gesprächsfetzen, die ich, an der Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters lauschend, aufschnappen konnte: „Ich musste auf allen Vieren wie ein Hund durch einen langen Gang kriechen, während SA-Männer mit Peitschen auf mich eindroschen.“
Ich verschwieg meine Ängste. Es war das erste Mal, dass meine Mutter nicht mit mir über ihre Sorgen sprach. Ich spürte deutlich, dass sich unser Leben in den letzten Wochen verändert hatte. Es war ernster geworden. Bei uns wurde immer viel gelacht. Nun war man eher schweigsam, nachdenklich. So schien es mir, wenn wir drei am Mittagstisch saßen. Auf Fragen oder Berichte aus der Schule, auf die meine Mutter immer großen Wert gelegt hatte, erhielt ich, ganz entgegen früheren Gewohnheiten, nur spärlich Antwort. Obgleich ich die Einzelheiten und Zusammenhänge nicht kannte und auch nicht übersehen konnte, spürte ich deutlich die Spannung, die mein Elternhaus nun beherrschte.
Doch auch die Atmosphäre der Stadt war verändert. Das Leben in den Straßen war lauter geworden, unfreundlicher. Lautsprecher verkündeten mit kreischender Stimme die unabänderliche Oberhoheit der neuen Machthaber und die große Chance, die dem deutschen Volk damit gegeben worden sei. Zeitungsverkäufer schrien die Schlagzeilen ihrer Zeitungen den potentiellen Käufern entgegen, auf dass sie die Gunst der Stunde richtig einschätzten. Litfasssäulen und Mauern waren verschandelt und mit Parolen der Partei beschmiert und weithin sichtbar. An manchen Sonntagen eilten Massen von Berlinern zu öffentlichen Plätzen, um die ersten zu sein, denen bekannte Schauspieler mit großen Kellen aus Gulaschkanonen im Namen der Partei einen Eintopf servierten. Ein Volksfest war’s mit Trommeln, Trompeten und Querpfeifen zur Festigung der Bande zwischen einem begeisterten Volk und der NSDAP.
Nie zuvor und nie wieder habe ich meinen Vater so empört gesehen wie bei der Lektüre eines Briefes mit dem Stempel des 7. April 1933. Der Absender war das Provinzialschulkollegium. Er enthielt die Mitteilung, dass das erste von der neuen Reichsregierung erlassene Gesetz gegen ihre politischen Gegner und Juden auch gegen meinen Vater angewendet werden würde. Dieses Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums bestimmte die Entlassung all jener aus dem Staatsdienst, deren „politische Betätigung nicht die Gewähr dafür bietet, dass sie jederzeit rückhaltlos für den Nationalstaat eintreten würden“.
„Ich, der ich als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teilgenommen habe, dürfte wohl damit meine positive Einstellung zum Nationalstaat bewiesen haben“, antwortete mein Vater auf diesen Brief. Seine Empörung sprach deutlich aus seinen Worten. Einer Antwort seitens des Ministeriums wurde der Oberstudienrat Dr. Martin Deutschkron nicht mehr gewürdigt. Das Gesetz wurde erlassen und ausgeführt. Viele ehemalige Beamte und Angestellte führte dieses Gesetz in die Arbeitslosigkeit. Auch unser Budget musste drastisch gekürzt werden.
Mein Vater erzählte auch auf Aufforderung nur selten über seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg. Man merkte ihm an, dass es ihm schwer fiel, darüber zu sprechen, was damals an Grausamkeit nicht zu überbieten war. Es war die Schlacht von Verdun 1917, an der er teilgenommen hatte. „Ich sehe es noch heute vor mir, wie eine Kugel meinen Kameraden traf.“ Für die Teilnahme an diesem Ersten Weltkrieg verlieh der Staat meinem Vater das Eiserne Kreuz. Er legte es in eine Schublade, getragen hat er es nie. Es verschwand auf mysteriöse Weise im Laufe unseres zerrissenen Lebens.
„Tragt ihn mit Stolz, den gelben Stern.“ Mit diesen Worten versuchten Funktionäre der Jüdischen Gemeinde ihre Mitglieder zu ermutigen, als wir im September 1941 gezwungen wurden, diesen gelben Lappen am äußersten Kleidungsstück in Herzhöhe zu befestigen. „Fest angenäht“, so stand es im Gesetz, das für Kinder ab sechs Jahren galt. Mit Stolz? Die Mehrheit der Deutschen, denen ich in den Straßen Berlins begegnete, guckte weg, wenn sie diesen „Stern“ an mir bemerkte oder guckte durch mich, die Gezeichnete, durch oder drehte sich weg.
Wie auch andere Juden hatte ich gelegentlich erfreuliche Erlebnisse. Ich erinnere mich, wie Unbekannte in der U-Bahn oder auf der Straße, meist im dichten Gewühl der Großstadt, ganz nah an mich herantraten und mir etwas in die Manteltasche steckten, während sie in eine andere Richtung guckten. Mal war es ein Apfel, mal eine Fleischmarke, Dinge, die Juden offiziell nicht erhielten. Wie so vieles, was unsere Hungerrationen hätte aufbessern können. Doch es gab auch andere, solche, die mich mit Hass ansahen oder hässliche Grimassen vor mir schnitten, um ihrem Abscheu für die Jüdin Ausdruck zu geben. Fraglos, der „Stern“ schuf eine diskriminierende Isolation für uns. Auf der Straße gewöhnte ich mir an, meinem Gesicht den Ausdruck einer Maske zu geben. Niemand sollte auch nur ahnen, wie es wirklich um mich stand.
Was bedeutete eigentlich dieser „Stern“ jenen, die ihn uns zu tragen zwangen, fragte ich mich. War er als Zielscheibe gedacht oder als Hinweis für die Richtung, die uns den Weg zu einem schrecklichen Ende wies? Ich dachte darüber nach. Ich kam zu dem Schluss, dass es doch wohl sinnlos wäre, wenn man uns im Vorhinein auf diese Weise über unser Ende informieren würde, so dass wir uns ängstigten und nicht wie bisher gelassen den Befehlen folgten. Und so reagierte ich unmutig, wenn meine Mutter mit Gerüchten über das, was uns bevorstehen sollte, nach Hause kam. Ich bat sie, mich damit zu verschonen. „Aber vielleicht sind diese Gerüchte dennoch wahr?“ hielt meine Mutter dagegen.
Nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass die Lage der Juden von Berlin immer kritischer wurde. Fast täglich gab die Regierung neue Gesetze, neue Vorschriften, neue Verbote für Juden bekannt, nach denen wir leben mussten. In ein so genanntes „Judenhaus“ eingewiesen, mussten sich immer zwei Personen ein Zimmer teilen. Um unsere Ausgrenzung perfekt zu machen, wurden die Telefonkabel durchschnitten, nahm man uns die Radioapparate weg. Der Gang zum Friseur wurde verboten, sowie das Waschen unserer Wäsche in einem Salon. Seife durfte uns nicht verkauft werden. Auch Eier und Kuchen nicht. Das Einkaufen der wenigen uns zugeteilten Lebensmittel war nur zwischen 16 und 17 Uhr erlaubt. Besuche von Kulturstätten waren Juden als erstes untersagt worden: es schloss den Spaziergang „im Grünen“ ein. Haustiere wurden Opfer der angeblichen „Rasse ihrer Herrchen“. Ach, es muss zu jener Zeit eine Riege von Unmenschen im Reichsinnenministerium beschäftigt worden sein, deren einzige Aufgabe es war, darüber nachzudenken, wie man Leben zur Qual macht. Lautes Motorengeräusch von Polizeiflitzern, die zu so ungewöhnlich früher Stunde durch Berlins Straßen rasten, vor einem Haus plötzlich hart bremsten, unterbrach die morgendliche Stille am 27. Februar 1943. Ein Polizist sprang aus dem Auto, stürzte in ein Haus, kam nach wenigen Minuten mit einem Menschen zurück, hatte ihn fest im Griff, schob ihn unsanft in den Wagen, fuhr zum nächsten Haus. Dort das gleiche Bild. Die wenigen Passanten, wohl auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle, beschleunigten ihre Schritte. Sie ahnten wohl, dass sich hier etwas Ungewöhnliches abspielte. Nur nichts sehen, was man hier getan hat, nur nicht wissen, was man hier tut – so oder ähnlich schienen ihre Reaktionen. In den Häusern ging Licht an. Schemenhaft sah man Gesichter hinter dem Vorhang der Küchenfenster, von wo aus man das Geschehen auf der Straße am besten verfolgen konnte.
Man holte Juden ab. Die letzten der einstmals stolzen Jüdischen Gemeinde, die sich noch in Berlin befanden. Damit löste die Nazi-Regierung ihr Versprechen ein, das sie dem deutschen Volk gegeben hatte: Berlin soll judenrein werden!
Diese Aktion hatte im Oktober 1941 begonnen. Damals erhielten tausend Menschen von der Jüdischen Gemeinde Formulare, auf denen sie angeben mussten, was sie noch besaßen. Die ausgefüllten Formulare mussten an die Jüdische Gemeinde zurückgeschickt werden, die gezwungen war, alles auszuführen, was die Gestapo ihr auftrug.
Am 16. Oktober holten Gestapobeamte noch eigenhändig die Tausend ab, deren Besitztum ihnen von den Formularen her bekannt war. Nach 20 Uhr versteht sich. Die Uhrzeit, zu der Juden dem Gesetz entsprechend zu Hause sein mussten. Die Beamten in ihren grauen Ledermänteln forderten Klara Sara Hohenstein, unsere Zimmernachbarin, eine etwa fünfundsechzigjährige Dame, die typische Großmutter. Zehn Minuten später verabschiedete sie sich von uns: „Die Herren wissen auch nicht, wohin ich komme. Ich melde mich, sobald ich kann.“
Mit einer gewissen Regelmäßigkeit ging von da an jeden Monat ein Transport mit tausend oder tausendfünfhundert Menschen aus Berlin „gen Osten“ ab. Die Zahl der zu Deportierenden hing von der Kapazität der Deutschen Reichsbahn ab. Nun allerdings überließ die Gestapo die gesamte Organisation der Deportationen der Jüdischen Gemeinde. Nur auf die persönliche Verriegelung der mit Menschen bis an den Rand gefüllten Waggons verzichteten die deutschen Beamten nicht.
Die letzten Berliner Juden holte man vornehmlich aus Fabriken ab, wo sie zur Herstellung von Munition für Hitlers Kriege zwangsverpflichtet gewesen waren. Dieser Tag ist als „Fabrikaktion“ in die Annalen der Judenverfolgung in Deutschland eingegangen. Doch man ergriff sie auch, wo und wie man sie fand: in ihren Wohnungen, auf der Straße, im Morgenrock, im Arbeitskittel. Ahnungslos folgten sie den Anweisungen, genau wie die Deportierten vor ihnen, von deren Schicksal sie nichts wussten. Zurück blieb die kleine Zahl derer, die ein Versteck gefunden hatten und in die Illegalität gingen wie meine Mutter und ich.
Auch ich sah sie vom Fenster aus, sehe sie noch heute, in ihrem Erschrecken wie erstarrt, von Polizisten in die Wagen gestoßen. „Schnell, schnell, schnell“, trieb man sie an. Diese letzte Deportation aus Berlin dauerte mehrere Tage.
Dann waren sie alle weg – meine Familie, meine Freunde, die blinden jüdischen Bürstenzieher von Otto Weidt, die jüdischen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, ihre Orden noch am Revers ihres Mantels. Wir hatten keinen Schrei gehört, sahen kein Aufbegehren; blickten ihnen nach, wie sie gehorsam ihren letzten Weg antraten. Des Nachts sah ich sie wieder vor mir, hörte nicht auf, an sie zu denken: Wo waren sie jetzt? Was tat man ihnen an? Ich begann mich schuldig zu fühlen. Mit welchem Recht, so fragte ich mich, verstecke ich mich, drückte ich mich vor einem Schicksal, das auch das meine hätte sein müssen? Dieses Gefühl von Schuld verfolgte mich, es ließ mich nie wieder los.
Ein Jahr nach Kriegsende erhielten meine Mutter und ich die Erlaubnis zur Einreise nach England. Begleitet von Emigranten holte mein Vater uns vom Bahnhof in London ab. Ich sah es sofort: für die Emigranten waren wir wie die Abgesandten ihrer ermordeten Angehörigen. Sie kämpften mit Tränen, als sie uns sahen. Wir waren wie eine Bestätigung, dass die Ihren den Kampf um ihr Leben in Nazi-Deutschland verloren hatten. Und wieder war es da, das Gefühl meiner Schuld.
Dieses Gefühl wich zeitweise der Sprachlosigkeit, wenn Menschen im Nachkriegsdeutschland zu mir sagten: „So vergessen Sie doch“, wenn sie mich nicht anders zum Schweigen bringen konnten. „Sie müssen doch auch vergeben können“, meinten sie. „Es ist doch schon so lange her.“ Die meisten, denen ich in der provisorischen Bundeshauptstadt Bonn begegnete, hatten sie einfach aus ihrem Gedächtnis gestrichen, die Verbrechen, für die der deutsche Staat eine eigene Mordmaschinerie hatte errichten lassen und die sie geschehen ließen.
Da wusste ich plötzlich, was meine Pflicht war, die mir meine Schuld auferlegte: Ich musste es niederschreiben. Die Wahrheit, die lückenlose Wahrheit, präzise und emotionslos, so wie ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. Es ging mir dabei nicht darum, dass die Schuldigen und jene, die dazu geschwiegen hatten, versuchen sollten, einen Weg der Sühne dem jüdischen Volk gegenüber zu finden. Nein, nein, das wäre sinnlos gewesen. Das deutsche Volk jener ersten Nachkriegsjahre wurde beschützt von seinem ersten Kanzler, der im Parlament in einer Regierungserklärung behauptet hatte, die Mehrheit der Deutschen wären Gegner der Verbrechen an den Juden gewesen. Viele von ihnen hätten sogar den Juden geholfen, ihren Mördern zu entkommen. Ach, wäre das doch die Wahrheit gewesen!
Ich aber war wie besessen von der Idee, dass Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe. Dass Menschen anderen Menschen das Recht auf Leben streitig machen könnten – ganz gleich welcher Hautfarbe, welcher Religion, welcher politischen Einstellung, nicht hier und nicht anderswo. Und um dieses Zieles wegen gilt es, die Wahrheit zu wissen, die ganze Wahrheit. Denn solange die Frage Rätsel aufgibt, wie konnte das Fürchterliche geschehen, ist die Gefahr nicht gebannt, dass Verbrechen ähnlicher Art die Menschheit erneut heimsuchen. Ich wollte daran mittun hier, heute und jetzt mit meinem ganzen Eifer, meiner ganzen Kraft.
Sieben Jahre waren wir getrennt, mein Vater und ich. Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte mein Vater noch nach England fliehen können. Er blieb in meiner Erinnerung als relativ kleiner Mann, aber kraftvoll in seinen Bewegungen, ein beliebter Lehrer und politischer Kämpfer, voller Energie und Tatendrang. Meine Mutter unterstützte dieses Bild von ihrem Mann in der Erinnerung sieben Jahre lang. Und nun saß er mir gegenüber in Birmingham, einer damals lieb- und leblosen Stadt in Mittelengland, müde, erschöpft, wie es mir schien, passiv dem Leben gegenüber. Während der sieben Jahre hatte er um eine Existenz in England ringen müssen, ohne Rücksicht auf die Gründe seiner Flucht aus Nazi-Deutschland. Mal störte sein so deutscher Name, mal sein ebenso deutscher Akzent.
Ich hingegen hatte in jenen Jahren um mein Überleben kämpfen müssen – zweieinhalb Jahre in Verstecken mit Hilfe von Freunden meiner Eltern, die ihr Leben für meine Mutter und mich riskiert hatten. Und wie sie war ich nun nach dem Krieg bereit, mich einzusetzen für ein Deutschland der Freiheit und der Demokratie. Den Beweis dafür erbrachte ich im ersten Nachkriegsjahr in Berlin, gerade 23 Jahre alt, als die Sowjets sich mühten, ihren Bereich über ganz Berlin auszudehnen.
Ich merkte, dass mein Vater irritiert war. Er hatte 1939 einen Teenager zurückgelassen und mich so in Erinnerung behalten. Nun stand vor ihm eine energische junge Frau, die das Kämpfen für Freiheit und Recht zur Maxime ihres Lebens gemacht hatte. Seine Augen glänzten ein wenig, als er mir plötzlich gestand, einst ähnlich gesprochen zu haben. Dann gab er mir gegenüber schließlich zu, dass er mit dem Kriegsende einen Rückruf nach Berlin erwartet hatte. Man habe ihn 1933 im wahrsten Sinne des Wortes rausgeschmissen. Daher, so meinte er, müsste man ihn nun, den nicht ganz unbekannten Pädagogen, zur Rückkehr einladen. Gewiss, seine vier Geschwister mit Familien gehörten zu den Mordopfern. Dennoch glaubte er weiter an die Deutschen, die damals seine Freunde waren und die sich nun verpflichtet fühlten wie er, ein neues Deutschland aufzubauen, das die Rechte eines jeden Menschen auf seine Fahnen schrieb. Doch dieser Ruf, diese Einladung kam nicht. Als er dies sagte, wandte er seinen Blick von mir ab, als wolle er nicht den Eindruck erwecken, er neide mir meine Zielsicherheit und meine Willenskraft.
Nun fuhr er fort, in englischen Schulen Deutsch zu lehren. Jeden Morgen suchte er im Briefkasten nach Post aus Berlin. An ihrer Stelle kam ein Brief von einer englischen Schulbehörde, die ihm nahelegte, die britische Staatsangehörigkeit anzunehmen, wenn er weiter in England lehren wollte. Tagelang überlegte er, kämpfte er mit sich. Dann sagte er zu. Die Urkunde brachte der Postbote.
Er nahm sie, stand stundenlang mit der Urkunde in der Hand, die ihn zum englischen Staatsbürger machte, am Fenster, guckte in die Ferne, ließ niemanden an sich heran. Woran dachte er wohl in diesen Momenten?